Der Amoklauf des 17 Jährigen Tim K. auf seiner ehemaligen Realschule in Wenningen um 9:30 Uhr unserer Zeit

Heute nacht konnte ich wieder einmal nicht eingeschlafen, ich schaute mir Jügen Domian ( http://domian.de ) um 1 Uhr nachts auf WDR-Fernsehen an.
Ein paar Stunden vorher hatte ich die Fernsehbilder vom Amoklauf in Winnenden gesehen. Ein ehemaliger Realschüler erschoss sich selbst und 15 Menschen. Die meisten Opfer waren SchülerInnen (9) und drei Lehrerinnen. Er erschoss sie mit einem Gewwehr den er aus dem Waffenschrank seines Vaters stahl.
Viele Schüler weinten. Eine Menge Medienleute belagerten den Ort der Tragödie wie Hyänen, die auf ihre Beute warteten.
Während seiner Flucht kidnappte er einen Autofahrer und erschoß einen Psychiatrie-Mitarbeiter vor dessen Klinik.
Normalerweise wäre in dieser Nacht bei Domian das Thema "Ich habe mich angesteckt".
Ich rief auch bei der Domian-Redaktion an. Der Hintergrundmann wollte wissen, ob ich was zu Winnenden zu erzählen hätte.
Da ich sprachlos war, wusste ich nicht was ich erzählen sollte.
Eigentlich wollte ich zu diesem anderen ursprünglichen Thema anrufen.
Ich wollte erzählen wie Depressionen in der sozialen Umgebung sich wie ein Unglücksvirus auf mich oder andere übertragen können.
Der Hintergrundmann mit der markanten rauchigen Stimme sagte, dass ich morgen zum ursprünglichen Thema anrufen könnte und bedankte sich für meinen Anruf, den ich kurz nach Mitternacht getätigt hatte.
Genauso hätte ich auch erzählen können, dass ein Amoklauf wie eine ansteckende Krankheit ist, aber diese Idee kam mir in dem Moment nicht in den Sinn.

Im beschaulichen Littleton fing alles an:
Seit Littleton 1998 hat es massenweise Amokläufe in den USA an Schulen und Universitäten gegeben.
Und seit dem letzten großen Amoklauf am Gutenberger Gymnasium in Erfurt vor vielen Jahren, gab es zahlreiche kleine Amokläufe an deutschen Schulen, wo es Schwerstverletzte oder ein oder zwei Tote zu beklagen gab.
Amokläufe sind wie eine Krankheit im Organismus der Gesellschaft, die chronisch werden können und gegen die es nur wenige Abwehrmittel gibt z. B. auf verhaltensgestörte Jugendliche eingehen, die sich sozial zurückziehen.
Oder auf die Verantwortung der Internetnutzer setzen, wenn jemand einen Amoklauf ankündigt und je genauer die Details sind, desto gefährlicher wird es.
Auch Depressionen können chronisch werden und an Depressionen litt auch der Amokläufer Tim K, der aus einer reichen Unternehmerfamilie stammte und eine kaufmännische Ausbildung absolvierte.
Er wurde als freundlicher Sonderling beschrieben, der nur wenige soziale Kontakte pflegte und seine Freizeit mit Counterstrike-Spielen verbrachte. Durch seinen Vater der im Schützenverein sich betätigte, hatte er eine gewisse Waffenschulung erfahren.
Wegen seinen Depressionen sollte er auch in psychiatrischer Behandlung gewesen sein.
In jener Nacht sprachen viele Anrufer mit Domian über den Amoklauf im beschaulichen Winnenden, der in der Nähe der Stadt Stuttgart liegt.
Viele drückten ihre Fassungslosigkeit aus; ein Fotograf erzählte wie er Mühe hatte Fotos zu schiessen, die das Leid der Menschen dokumentierten. Allerdings manche Medienleute hatten weniger Hemmungen und drückten ohne Skrupel auf dem Apparat, als würde sie eine Trophäe zur Strecke bringen. Das machte ihn traurig.
Eine etwas ältere Dame erzählte wie sie sich im Autohaus mit ihren Kunden und Mitarbeitern einschloss. Sie erlebte Todesängste erlebt, als sie die peitschenden Schüße hörte, die im Gefecht zwischen dem Amokschützen und der Polizei fielen.
Am Ende soll der Amokläufer die Waffe gegen sich selbst gerichtet haben.
Er starb.
Warscheinlich wollte er durch ein Riesenknall aus dem Leben scheiden. Vorher war er ein unsichtbarer Counterstrike spielender Sonderling, den kaum jemand beachtete. Das Counterstrike-Spiel hatte sich Einfluß auf seine Treffsicherheit.
Jetzt konnte er seinen Hass auf die Menschheit auf reale Figuren lenken und ihnen den Schmerz zufügen, der er wohl fühlte, weil er sich ausgegrenzt oder vernachlässigt fühlte.
Meine isolierte depressive Jugend:
Wenn ich an meine Jugend in den 90er Jahre denke, da fühlte ich mich auch isoliert und ausgeschlossen von der Schule und der Gesellschaft. Einige Lehrer wollten mich in der 5. Klasse auf eine Sonderschule abschieben, weil ich verhaltensauffällig war. Alles was nicht der Norm angehört wird in Deutschland auf Sonderschulen oder Hauptschulen entsorgt.
Das sind noch die Überbleibsel der totalitären Erziehung vor der 68er Zeit. Der Druck auf die Schüler ist subtiler geworden. Früher wurden die Schüler mit dem Rohrstock verprügelt, heute drückt sich die Gewalt psychisch aus, indem gemeine Bemerkungen gemacht werden.
Später erfuhr ich, dass es auch andere gab, denen ähnliches an dieser Schule wiederfahren war. Zu dieser Zeit dachte ich, dass ich der einzige Sonderling weit und breit wäre.
Leider erlebte ich auch Mobbing, aber nie so schlimm, dass es unerträglich wurde. Aber auch diese Kränkungen genügten, dass ich mich immer mehr in meine Welt zurückzog und ab dem 9. Schuljahr keine Kontakte zu Mitschülern pflegte.
Ich erinnere mich immer noch an den Abteilungsleiter meines Schuljahres wie er zu mir sarkastisch sagte: "Hallo Herr Professor." Auch ein Spruch der mich verletzte, der sich in meine Hirnwindungen eingrub und meine Depression mitauslöste.
Persönlich fällt es mir schwer aus diesem Teil der Vergangenheit zu berichten, die aus sovielen Kränkungen und Unsicherheiten bestand.
Warum wurde ich kein Amokläufer?
Fehlten mir Littleton und Counterstrike und Internet mit brutalen Bildern die mich hätten abstumpfen lassen können?
Ich denke der Grund war auch der, dass ich zuviel Einfühlungsvermögen besaß und mich nicht in diesen Hass so reinsteigern konnte, wie zwei andere teilweise gemobbte Mitschüler.
Später erzählten sie mir von ihren Mordphantasien oder mein damaliger Schulfreund erzählte mir wie er einen arroganten Mitschüler von mir am liebsten an die Wand geklatscht hätte.
Und dies erzählte er mir viele Jahre nach seinen Kränkungen. Die Wut und Aggressionen waren noch sehr da, auch bei mir.
Aber trotzdem hätte ich nie das fertig bringen können, was Tim K schaffte.
Ich hatte zuviele Träume und Sehnsüchte.
Vielleicht haben mich diese Träume, trotz meiner depressiven Lebenswelt vor schlimmeren wie Selbstmord bewahrt.
Träume und Hoffnungen sind die größten inneren Schätze.
Wenn die verloren geht, geht auch der Mensch verloren und mit ihm seine Welt wie bei Tim K.
Ich fühle mit allen Opfern, auch mit der Täterfamilie.
Und ich will niemanden die Schuld geben, denn das ist zu einfach.
Wir sollten aufeinander aufpassen und unseren Nächsten besuchen oder anrufen.
So können wir Gewalt und Hoffnungslosigkeit verhindern.
Das ist mein Traum.
Keiner darf verloren gehen!
Zuviele gehen heute in der Internetwelt baden, auch ich.
In einem Chat in den Morgenstunden soll Tim seine Tat mit diesen Worten angekündigt haben:
"Ich habe dieses Lotterleben satt. Immer dasselbe. Alle lachen mich aus. Niemand erkennt mein Potential. Ich meine es ernst. Ich habe eine Waffe."
Können diese Abschiedsworte die Tat alleine erklären?
Kontakt: deprifrei@web.de
deprifrei-leben - 12. Mär, 18:28